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Pressemeldung

Armutssensible Sprache – wie wir Wirklichkeiten mitgestalten können

„Was geht, Digga?“ oder „Seid mir Willkommen, Gevatter!“. Die informellen Anreden unter Jugendlichen, heute und im Mittelalter, könnten unterschiedlicher nicht sein. Branchen, andere Sprachen, Wissenschaften, technische und digitale Neuerungen hinterlassen Spuren in der Sprache, die entweder nachhaltig sind oder sich verflüchtigen. Kreative Wortschöpfungen, Bedeutungswechsel, verblasste Grammatik-Regeln und neue Rechtschreibungen verjüngen die Sprache. Ein Essay von Natalie Deissler-Hesse

Heute nutzen wir das Ticket, der Fahrschein hat ausgedient. Wir möchten uns als Tourist nicht mehr beim Fremdenverkehrsamt informieren, Smartphones gehören zu unserem Alltag. Die Wortschöpfung Brexit ist in unseren Wortschatz übergegangen. Der Genitiv findet fast nur noch in der Schriftsprache statt. Auch wenn eine Minderheit versucht, ihn in der gesprochenen Sprache zu erhalten, wird der Genitiv aussterben, ebenso wie andere Fälle, die es einst in germanischen Sprachen gab.

Was haben die Jugendsprache, neue Begriffe und der Genitiv mit armutssensibler Sprache zu tun? Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass sich Sprache stetig und unaufhaltsam verändert. Wir können uns dem Wandel beugen, versuchen, ihn mit erhobenem Zeigefinger aufzuhalten oder ihn mitgestalten. Es obliegt uns, wo, bei wem und welche Impulse wir setzen. Wir können die Richtung mitbestimmen, in die sich Sprache verändert.

Die sprachliche Komfortzone

Der in den vergangenen Jahren fortschreitende gender- und diversitätssensible, rassismuskritische und inklusive Sprachgebrauch geht mit einem gesellschaftlichen Wandel einher. Dennoch herrscht bei einem Großteil der Bevölkerung Zurückhaltung bis hin zum Widerstand, wenn es darum geht, Sprache so zu entwickeln, dass sie niemanden ausschließt oder diskriminiert.

Warum nur fällt es so schwer, sich auf Sprachneuerungen einzulassen? Darauf gibt es eine erschütternd einfache Antwort: Weil es unbequem ist. Sprache ist Gewohnheit. Wir haben unsere Muttersprache als Kinder meist unbemerkt und spielerisch gelernt, fühlen uns mit ihr wohl und sicher. Meistens schaffen wir es, das zu sagen, was wir ausdrücken möchten. Doch manchmal schießen die Worte schneller aus dem Mund, als die mit ihnen verbundenen Gedanken zu Ende gedacht sind. Verinnerlichte Formulierungen, liebgewonnene Begriffe, Floskeln und Phrasen, aber auch abfällige Begriffe und Schimpfwörter sind in hitzigen Diskussionen schnell parat.

Gerne wollen wir unerwartete Fragen spontan beantworten, ohne einzelne Begriffe mühsam zu hinterfragen. Sprache soll schließlich das Zusammenleben vereinfachen und, um einen soziologischen Begriff zu bemühen, Komplexität reduzieren. Ja, eine gewisse Unachtsamkeit ist behaglich, sprachliche Sorgfalt anstrengend. Dabei haben wir es schon etliche Male geschafft, uns aus der sprachlichen Komfortzone zu trauen, wenn nötig auch manchmal mit einem kleinen Tritt. Wer sich vor Jahren erfolgreich gegen Anglizismen wehrte, hat inzwischen zumindest einige in seinen Sprachgebrauch übernommen. So gewaltig und unaufhaltsam strömen englische Begriffe in die deutsche Sprache, dass schon Kita- und Grundschulkinder ein ganzes Repertoire englischer Wörter kennen und nutzen, manchmal ohne diese zu verstehen.

Sprache als unterschätztes Machtinstrument

Über die machtvolle Wirkung von Sprache wird viel geforscht – mit eindeutigen Ergebnissen. Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung, sie formt und bearbeitet, ändert und schafft Wirklichkeit, darüber dürfte inzwischen Einigkeit herrschen. Daher ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wie wir Sprache verwenden und welche Auswirkungen sie auf unsere Realität haben kann. Deutlich wird das in der Werbesprache (Geiz ist geil), in der politischen Sprache (Die neue Mitte) oder in der diskriminierenden Sprache (Bananenrepublik). Über das sogenannte Framing werden Botschaften und Bilder transportiert: Ein negatives Beispiel ist die so betitelte Flüchtlingswelle und -flut, die Zuwanderung und geflüchtete Menschen in Verbindung mit einer Naturkatastrophe bringt.

Die Gender-Debatte hat uns indes vor Augen geführt: Wer nicht genannt wird, wird oft nicht mitgedacht. Gerne bemühte Beispiele sollen auch hier nochmals in Erinnerung gerufen werden: Die Aussage Grundschullehrer streiken schließt nach den Regeln des generischen Maskulinums auch Lehrerinnen ein, nennt sie aber nicht „beim Wort“, obwohl sie de facto rund 90 Prozent der Grundschul-Lehrerschaft ausmachen. Welches Bild haben Sie bei einem sozial schwachen Menschen im Kopf? Welches bei einer Brennpunktschule? Und was genau ist eigentlich eine Risikofamilie?

Stigmatisierungen spalten die Gesellschaft

Das Verallgemeinern und Stigmatisieren wird in Bezug auf Armut insbesondere von Politiker*innen und Medien vorangetrieben. Das Boulevard-Fernsehen sendet Unterschichts-Reportagen. Armutsbetroffene, Wohnungslose, Arbeitsuchende oder Bezieher*innen von Sozialleistungen werden als Menschen dargestellt, die aufgrund charakterlicher Schwächen in die Armut gerutscht sind. Es werden passive, oftmals rauchende Menschen gefilmt, deren Hauptaktivität es ist, Formulare für Behörden auszufüllen. Ein Titel der Bild-Zeitung aus dem Jahr 2019 lautete: Deutschlands faulster Arbeitsloser jubelt: ‚Jetzt gibt’s Hartz IV auf dem Silbertablett. Kein Bock auf Arbeit ...` aber der Staat zahlt und zahlt!. Sozialschmarotzer und Sozialbetrüger sind in Boulevardmedien häufig fallende Begriffe für Erwerbslose. Sie nähren den Mythos, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Strukturelle Ursachen von Armut werden damit individualisiert, ein selber Schuld wird im Kontext von Armut impliziert. Es gibt unzählige Redensarten, die das Bild einer Leistungsgesellschaft zeichnen, in der sich man sich hocharbeiten kann: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Von nichts kommt nichts. Jeder bekommt, was er verdient. Wie man sich bettet, so liegt man.

Beschreibungen von finanziell armen Menschen fallen durch sogenannte Leitmedien und in der Sprache einiger Politiker*innen zwar weniger populistisch, aber deswegen kaum weniger abwertend und stigmatisierend aus: Gerne wird die Begrifflichkeit sozial schwach zu Armut in Beziehung gesetzt. In der Corona-Pandemie erlebt das Konstrukt eine neue Hochzeit: Sozial Schwache sterben häufiger an Corona (n-tv), Covid 19 trifft sozial schwache Kinder hart (Ärzte-Zeitung), Coronavirus: Sozial Schwache sind besonders gefährdet (Hans-Böckler-Stiftung) sind nur einige Beispiele. Die Macht der Sprache wird erneut deutlich: Nicht nur die Auswirkungen der Corona-Pandemie treffen finanziell arme Menschen besonders hart – die neuerliche Zuschreibung von sozial schwach, die insbesondere von den Medien vorangetrieben wird, grenzt zusätzlich aus.

Das Konstrukt dieses sozialen Defizits ist ebenso falsch wie gefährlich. Es schafft eine Hierarchie. Die Sprecher*innen / Schreiber*innen blicken auf die sozial Schwachen herab und urteilen über sie. Sozial schwach impliziert, dass Menschen mit wenig Geld zugleich auch soziale Probleme haben bzw. sich nicht sozial verhalten. Dabei kann soziales Handeln und Engagement gerade bei Armutsbetroffenen besonders ausgeprägt sein, sind sie doch besonders auf Unterstützung innerhalb der Familie, des Freundeskreises und der Nachbarschaft angewiesen. Nein, soziale Kompetenz ist nicht am Kontostand ablesbar. Und nein, eine liebevolle Kindererziehung wächst nicht mit dem Einkommen.

Möchten Sie den Essay weiterlesen? Sie können ihn im Buchhandel unter der ISBN 9783955661731 oder über unten stehen Link erwerben:

SUKULTUR Verlag

Haben Sie Erfahrungen mit armutssensibler Sprache gemacht? Wie stehen Sie zu diskriminierungssensibler Sprache?

Schreiben Sie mir gerne!