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Pressemeldung

Lust auf Zukunft

Die Jugendwerkstatt Geldern begleitet benachteiligte junge Menschen, die sich im Übergang zwischen Schule und Beruf verloren haben. In rund zwölf Monaten verbessern sie mithilfe der Fachkräfte berufsrelevante und soziale Kompetenzen sowie persönliche Stärken. Darüber hinaus haben sich viele Jugendliche beim Verlassen der Jugendwerkstatt eine konkrete berufliche Anschlussperspektive erarbeitet.

Von Natalie Deissler-Hesse, LVR Landesjugendamt

Gelangweilt klickt sich ein Jugendlicher, nennen wir ihn Max, durchs Netz. Ein weiterer Tag ist vergangen, an dem einfach nichts passiert ist. Der 17-Jährige hat das Gefühl, dass er in einer Sackgasse steckt. Die Schulzeit hat er mit dem Hauptschulabschluss hinter sich gebracht, aber eine berufliche Perspektive ist nicht in Sicht. Er könne gut mit Zahlen umgehen, sagten die Lehrer. Doch nach einem Praktikum im Einzelhandel war Max klar: Hier will ich nicht arbeiten. Sein Vater drängt ihn, die Familientradition als Maler und Lackierer fortzusetzen. Seine Freundin recherchiert für ihn Ausbildungen zum Pfleger. Und er selbst? Max kann seinen Berufswunsch nicht benennen, noch nicht einmal seine Stärken. Immer öfter verliert er sich in düsteren Gedanken.

Viele Jugendliche und junge Erwachsene befinden sich in einer ähnlichen Situation wie der fiktive Jugendliche Max: Wie soll es beruflich weitergehen? Was kann ich und was will ich? Sie benötigen gezielte Unterstützung dabei, ihre sozialen und berufsbezogenen Kompetenzen zu klären und auszubauen. Jugendwerkstätten bieten ein jugendhilfespezifisches, niedrigschwelliges und freiwilliges Angebot im Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf. Insbesondere benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen können hier Anschlussperspektiven entwickeln – mit allem, was dazu gehört.

Eine von der Fachhochschule Köln durchgeführte fünfjährige Längsschnittuntersuchung im Profilpapier „Jugendwerkstatt NRW“ attestiert den Jugendwerkstätten, „wesentlich zur Vermeidung von Desozialisierungsprozessen und gesellschaftlichen Abkoppelungsprozessen“ beizutragen und damit präventiv zu wirken**. Hierzu gehört es, die Jugendlichen in ihrer psychischen Entwicklung und Selbstsicherheit sowie bei Konfliktlösungskompetenzen zu stärken. Die Jugendwerkstätten in Nordrhein-Westfalen werden mit kommunalen Mitteln sowie vom Landschaftsverband Rheinland mit Mitteln aus dem Kinder- und Jugendförderplan des Landes NRW gefördert.

Orientierungshilfe in der Berufsfindungsphase

Die Jugendwerkstatt Geldern, ein Angebot des Berufsbildungszentrums Kleve e.V. (BBZ), nimmt jährlich rund 30 junge Menschen zwischen 16 und 27 Jahren in einer wohlwollenden Atmosphäre auf. Innerhalb eines Jahres oder länger können sie in der Jugendwerkstatt in berufsfeldbezogenen Werkbereichen sowie in sozial- und erlebnispädagogischen Projekten eigene Fähigkeiten erproben und Schlüsselkompetenzen ausbauen. Der angebotene Nachhilfeunterricht und individuelle sozialpädagogische Beratung unterstützen die Jugendlichen nach Bedarf.

Hätte die Jugendwerkstatt Geldern einen Slogan, würde dieser heißen: „Willkommen! Wir bereiten dich auf den Arbeitsmarkt vor und finden gemeinsam einen für dich passenden Weg“. Wer aufgrund seines nicht gradlinigen Lebenslaufes kritisch beäugt wurde, trifft in der Jugendwerkstatt auf Fachkräfte, die die Heranwachsenden als Schützlinge mit Potenzialen sehen, die es gemeinsam zu entdecken gilt. Ein reibungsloser Übergang von der Schule in Ausbildung oder Beruf scheiterte bei vielen an beruflicher Orientierungslosigkeit, fehlender Selbstständigkeit oder wegen Problemen bei der Alltagsbewältigung. Auch Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit sind Schlüsselkompetenzen, die bei den Neuankömmlingen in der Jugendwerkstatt oft nicht vorhanden sind.

Vielfalt im Team

Die Jugendwerkstatt Geldern verfügt über ein multiprofessionelles Team aus sozialpädagogischen Fachkräften, Werkanleiter*innen sowie Lehrkräften. Zusammen bündeln sie ein buntes Spektrum an Fähigkeiten und Ausbildungen: Zu der Mitarbeiterschaft in Geldern gehört ein Tischler und Erzieher ebenso wie eine Heilpädagogin und eine Betriebswirtschaftlerin, die ihrerseits handwerkliches Geschick, medizinisches Wissen oder strukturiertes Denken einbringen. Besonders positiv äußert sich Axel Schmieding, der als Bereichsleiter für die Jugendwerkstätten des BBZ zuständig ist, über die Generationenvielfalt: „Die Jugendlichen profitieren vom unterschiedlichen Blick der Generationen“, hält er fest. Ein großer Erfahrungsschatz sowie Ruhe und Gelassenheit würden von einer dynamischen Herangehensweise und fortschrittlichem Denken ergänzt.

Kleinschrittige Bewältigung von Herausforderungen

Die Fachkräfte ermitteln Förderbedarfe und –ziele, die in einem verbindlichen und einvernehmlichen Förderplan regelmäßig überprüft, reflektiert und fortgeschrieben werden. In den Förderprozess sind neben den Fachkräften vor Ort auch die Teilnehmenden, die Erziehungsberechtigten und ggf. weitere Fachkräfte der Hilfesysteme eingebunden. Der Förderplan hat stets einen Bezug zur Lebenswelt und dem Sozialraum der Jugendlichen.

Für viele Jugendliche ist ein gewünschtes Förderziel, den Hauptschulabschluss nachzuholen. Wer sich dafür entscheidet, verpflichtet sich zugleich, regelmäßig am Nachhilfeunterricht teilzunehmen. Das zahlt sich aus: 2022 erreichten alle Jugendlichen den Hauptschulabschluss, die ihn angestrebt hatten. Auch „kleine“ tagesstrukturierende Maßnahmen können Förderziele sein: Ein psychisch erkrankter Jugendlicher, für den das Busfahren eine Herausforderung darstellte, erreichte das Förderziel, regelmäßig mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zu seiner Therapiestunde zu fahren.

Gemeinschaft und Bezug zur Natur stärken

Der Tag in der Jugendwerkstatt beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück und einer anschließenden „Aktivierungsrunde“, einem Spaziergang um den örtlichen See – eine wichtige, tagesstrukturierende Maßnahme. Naturerlebnisse oder ein Ausflug ans Meer sind für viele Teilnehmende etwas Außergewöhnliches. Sie sind bisher kaum aus ihrer Stadt herausgekommen und sehen das Meer zum ersten Mal.

Oft ist den Jugendlichen der Bezug zur Natur und natürlichen Lebensmitteln verloren gegangen, die eigene Gesundheit wird vernachlässigt. Einige Jugendliche kommen ohne Frühstück in die Jugendwerkstatt. Für sie gehören im Laufe des Tages der Snack beim Bäcker, Energy Drinks und Fast Food zum Alltag. Ein Apfel mit einer braunen Stelle landet indes schnell im Müll. Bei einem Projekt zum Umgang mit reifem Obst hatten die Jugendlichen deshalb ein regelrechtes Aha-Erlebnis: Sie lernten, dass man runzelige Äpfel für Kuchen nutzen oder zu Apfelmus verarbeiten kann.

Erfolgserlebnisse: Kompetenzen erkennen

Eine bewährte Methode für Neuankömmlinge, sich mit ihren beruflichen Wünschen und persönlichen Stärken auseinanderzusetzen, ist der „Zukunftsplaner“. Die Jugendlichen lernen in Übungen, realistische Berufsziele zu benennen und sich eigener Stärken bewusst zu werden. Viele seien, was ihre berufliche Zukunft angehe, ernüchtert, berichtet Fachkraft Gisela Arts. „Sie sollen wieder Lust auf die eigene Zukunft bekommen.“

Ihre ermittelten Stärken können die Jugendlichen im werkpädagogischen Angebot praktisch umsetzen. In der Holzwerkstatt erlernen sie handwerkliches Arbeiten und technisches Verständnis, Sorgfalt und Konzentration werden geschult. Mohammad* hat in der Werkstatt ein eigenes Projekt verwirklicht. Er erläutert, wie er aus seinem Herzenswunsch nach Frieden in seiner Heimat Syrien zunächst eine Skizze und dann ein Holzschild erarbeitet hat. „Frieden schaffen ohne Waffen“ steht über einem Gewehr. Auch in der Fahrradwerkstatt haben Mohammad und andere Jugendliche ihr Können und ihre Arbeitsmotivation unter Beweis gestellt und eine Reihe defekter Fahrräder repariert. „Jetzt steht kein einziges kaputtes Fahrrad mehr hier“, sagt Mohammad stolz. „Ich habe aus drei kaputten ein gutes Fahrrad gemacht!“.

Jira*, die sich als Kurdin vorstellt, hat entdeckt, wie wichtig Teamarbeit ist. Eine Kompetenz, die sie in ihrem späteren Wunschberuf – Altenpflegerin oder Erzieherin – brauchen wird. „Manche stehen nach dem Frühstück einfach auf und lassen alles liegen“, erzählt sie. „Bei uns sagt man: viele Hände, schnelles Ende. Ich habe den anderen beigebracht, dass es wichtig ist, einen Beitrag zu leisten.“ Vor der Zeit in der Jugendwerkstatt habe sie längere depressive Phasen erlebt, berichtet sie. Ihr habe damals die berufliche Motivation gefehlt. „Das ist jetzt anders.“ Jira hat gelernt, Stärken zu benennen, die sie beruflich nutzen kann: „Ich bin teamfähig und sozial“, sagt sie selbstbewusst. „Außerdem kann ich gut Streit schlichten.“

Jugendwerkstatt: Fester Ankerpunkt im Alltag der Jugendlichen

„Was macht mein Kind eigentlich den ganzen Tag in der Jugendwerkstatt?“ Mit dieser Frage der Eltern werde sie häufig konfrontiert, berichten die Fachkräfte. Der Wunsch, ihr Kind möge doch weiterhin zur Schule gehen oder schnell in die Erwerbsarbeit kommen, sei zwar verständlich und doch nicht immer zum Wohle der Jugendlichen. „Manchmal braucht es einfach ein anderes Setting“, betont Gisela Arts. Wie bei Mohammad, dessen Familie aus Syrien geflüchtet ist. Einst ein guter Schüler und sportlich aktiv, geriet er durch einen „falschen Freundeskreis“, wie er sagt, auf die schiefe Bahn. Durch den Wechsel in die Jugendwerkstatt hat er große Fortschritte gemacht, was seine schulischen Leistungen und seine Persönlichkeitsentwicklung betrifft.

Mohammad hat nun einen neuen Weg eingeschlagen, der ihn weiterbringt. Er ist wöchentlich drei Tage in der Jugendwerkstatt und zwei Tage im Berufskolleg. Das neue Umfeld und die Lern- und Hausaufgabenbetreuung, die die Jugendwerkstatt ebenfalls anbietet, haben ihm einen Leistungsschub gegeben. Hier hat er gelernt, zu lernen. „Meine Noten haben sich verbessert. Ich komme mit einem Lachen zum Unterricht“, erzählt er motiviert. „Und ich bin stolz darauf, wie ich mich in der Schule schlage.“

Aber nicht nur in der Schule, auch in seinem Privatleben habe sich vieles verbessert. Mohammad macht wieder Sport und hat neue Freunde gefunden. „Ich habe mir etwas Neues aufgebaut“, sagt er selbstbewusst. Doch sein Hauptaugenmerk liegt auf den schulischen Leistungen: In allen Fächern will er sich weiter verbessern. „Das ist wichtig, weil es immer schwieriger wird“, erläutert er. Deshalb wolle er auch keinen Unterricht mehr verpassen. „Ein gutes Zeugnis motiviert mich, weiterzumachen.“ Mohammad erzählt von seinem Traumjob, für den er das alles macht. „Ich würde so gerne als Ingenieur arbeiten, mal im Büro und mal auf der Baustelle. Ich liebe die Abwechslung.“

Politische Bildung trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei

Zur Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen gehört, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen und diese in Bezug auf die Zukunft zu reflektieren. Diese politische Bildungsarbeit nimmt die Jugendwerkstatt Geldern u. a. als teilnehmende Trägerin im LVR-Programm „Jugend gestaltet Zukunft“ wahr. Nachdem sich die Jugendlichen 2021 in Workshops zu den Themen Zwangsarbeit und Kindereuthanasie vorbereitet hatten, besuchten sie gemeinsam mit zwei weiteren Jugendwerkstätten die Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig. Die Besichtigung habe bei den Jugendlichen viele Fragen aufgeworfen, erinnern sich die Fachkräfte. Noch Wochen später habe reger Austausch über die Thematik stattgefunden. Im darauffolgenden Jahr besuchten die Jugendlichen die Abtei Brauweiler, die von den Nationalsozialisten als Arbeitslager und Gefängnis genutzt wurde. Die hier inhaftierte oppositionelle Jugendgruppe „Edelweißpiraten“ gab den Anstoß, darüber zu diskutieren, wie man sich fühlt und was passieren kann, „wenn man nicht ins System passt“.

Beitrag zu gesellschaftlicher Teilhabe

Die Jugendwerkstatt Geldern kann auf viele individuelle Erfolge verweisen: Die Mehrzahl der Jugendlichen, die die Jugendwerkstatt Geldern 2022 verließen, setzten ihre schulische Laufbahn fort, begannen eine Ausbildung oder gingen einer Erwerbstätigkeit nach. Vereinzelt wechselten Jugendliche in andere Jugendhilfemaßnahmen. „Wie haben keinen Zeitdruck“, betont Gisela Arts. „Wichtig ist, dass sich die Jugendlichen auf den Weg machen, das kann auch langsam sein.“ Man merke, wenn ein*e Jugendliche*r reif sei, die Jugendwerkstatt zu verlassen. Mit Blick auf einen Jugendlichen, der zwei Jahre gebraucht habe, um stabil zu werden, sagt sie: „Hauptsache, es bewegt sich was.“ Es kommt auch vor, dass Jugendliche die Jugendwerkstatt ohne Anschlussperspektive verlassen oder die Maßnahme abbrechen. „Wenn Drogen im Leben der Jugendlichen eine zu große Rolle spielen, können wir als Jugendwerkstatt nicht weiterhelfen“, stellt die Fachkraft fest.

Guter Zulauf und Warteliste

Die meisten Jugendlichen äußern sich zufrieden über ihre Zeit und die Lernerfolge in der Jugendwerkstatt. Der Aufenthalt wird als Erlebnis wahrgenommen, das ihren Lebensweg positiv beeinflusst hat. „Die Jugendlichen verabschieden sich bei uns mit Zufriedenheit und Selbstbewusstsein“, hält Fachkraft Susanne Rauch fest. Verlässlichkeit, weniger Fehlzeiten, ein realistisches Berufsziel benennen und entsprechende Schritte unternehmen, sich Hilfe organisieren in Krisensituationen – all das sind erzielte Erfolge in der Lebensplanung der Jugendlichen. „Für manche ergibt es wieder Sinn, morgens aufzustehen“, ergänzt Gisela Arts. Axel Schmieding beobachtet ein wachsendes Gemeinschaftsgefühl unter den Jugendlichen: „Die Neuen werden von den alten Hasen gebrieft und fügen sich ein“, berichtet er. Der Zusammenhalt habe die Reputation der Jugendwerkstatt Geldern deutlich verbessert: „Wer früher zu uns kam, zu dem ging man auf Abstand“, erinnert er sich. Doch dass Jugendliche gerne kämen und sich wohl fühlten, habe sich inzwischen herumgesprochen. Es gibt eine Warteliste. „Für die Jugendlichen werden wir immer cooler“, stellt Axel Schmieding fest.

Auch Mohammad, Jira und viele andere Jugendliche freuen sich auf den Tag in der Jugendwerkstatt. Hier haben sie ihren Platz gefunden. Vorübergehend – denn das ist erst der Anfang ihres (beruflichen) Werdegangs.

*Namen von der Redaktion geändert

Jugendwerkstatt Berufsbildungszentrum Kreis Kleve

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