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Pressemeldung

„Armutsprävention wirkt!“

Christoph Gilles, langjähriger LVR-Abteilungsleiter der Jugendförderung sowie der Koordinationsstelle Kinderarmut, verabschiedete sich im März 2024 in den Ruhestand. Mit Engagement und Expertise hat er seit 2002 die Entwicklung von Kommunalen Präventionsketten in Nordrhein-Westfalen fachlich begleitet und neue Impulse gesetzt. Im Interview mit Natalie Deissler-Hesse blickt er auf die Meilensteine der Armutsprävention zurück und benennt zukünftige Herausforderungen.

Herr Gilles, als Abteilungsleiter Jugendförderung und der Koordinationsstelle Kinderarmut setzen Sie sich seit vielen Jahren für kindsbezogene Armutsprävention ein. Wie kam es dazu, dass Sie sich den kommunalen Präventionsketten verschrieben haben?

Christoph Gilles: Wie so oft im Leben sind hier einige Dinge zusammengekommen. 2002 war ich für die LVR-Modellförderung zuständig, als wir einen interessanten Antrag der AWO-Niederrhein auf dem Tisch hatten: Es ging es um eine gezielte Präventionsarbeit für Kinder und Familien. Mo.Ki – Monheim für Kinder war damit geboren. Fachlich begleitet wurde das Projekt von der Armutsforscherin Gerda Holz, vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) Frankfurt, die im Verlauf der Projektarbeit den Begriff der Präventionskette geprägt hat. Zusammengefasst ging es darum, die vielen einzelnen Angebote einer Kommune überschaubar zu machen und im Sinne des Bedarfs besser aufeinander abzustimmen – zugunsten der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien! Das war für uns im Landesjugendamt der Auftakt, das Thema weiter voranzutreiben. Das LVR-Projekt NeFF – Netzwerk frühe Förderung, mit dem herausragenden Beispiel von Dormagen, schaffte es ab 2008, dem abstrakten Begriff der „Präventionskette“ eine konkrete Gestalt zu geben. Seitdem sind wir als LVR–Koordinationsstelle Kinderarmut mit Beratung, Fortbildung, Finanzierung und fachlicher Weiterentwicklung der Präventionsketten aktiv und konnten auch bundesweit Akzente setzen.

Welche Meilensteine können Sie rückblickend in der Armutsprävention in NRW benennen?

Christoph Gilles: Neben den oben beschriebenen Initialprojekten war das LVR-Programm „Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut“ der entscheidende Schritt. Ausgehend vom Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses im März 2009, der „Jugendpolitischen Agenda“, konnten in Zusammenarbeit mit der Auridis-Stiftung insgesamt 39 Kommunen im Rheinland fachlich und finanziell unterstützt und damit Schritt für Schritt Präventionsketten auf den Weg gebracht werden. Mit der flächendeckenden Ausweitung des Landesprogrammes “Kein Kind zurücklassen“, jetzt „kinderstark“, konnte der Projektstatus in Teilen verlassen werden. Es bietet nun den Kommunen die Chance, das gelingende Aufwachsen aller Kinder, insbesondere derer, die in Armut leben, zu ermöglichen. Was fehlt, ist die gesicherte, dauerhafte Finanzierung der Landesmittel, um die Folgen der fortschreitenden Spreizung der Gesellschaft und der ungleich verteilten Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen erfolgreich entgegenzuwirken.

Woran macht es sich für Sie bemerkbar, dass die vielen Initiativen zur Armutsprävention bei den originären Adressat*innen, also den Kindern, Jugendlichen und Familien angekommen sind?

Christoph Gilles: Diese, auf die Wirkung abzielende Frage ist sowohl berechtigt als auch schwierig zu beantworten. Es ist legitim, von Entscheidungsträger*innen wie von beteiligten Fachkräften zu fragen: Sind wir eigentlich auf der richtigen Spur? Lohnt sich der Einsatz von Geld, Personalressourcen und Engagement? Machen wir die richtigen Dinge?

Wir sind als LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut dieser Frage nachgegangen und haben mit dem Projekt „Wissen, was wirkt“ wichtige Ergebnisse eines wirkungsorientierten Monitorings kommunaler Präventionsketten zusammengefügt. Die eigentliche Schwierigkeit: Hier hilft keine punktuelle Evaluation, sondern es braucht den Blick auf die gesamte Präventionskette einer Kommune. Der Mix von einzelnen Kennzahlen zu Kitaversorgung, Schuleingangsuntersuchungen oder die Sozial- und Jugendhilfeleistungen einer Kommune sind dabei genauso wichtig wie der Blick auf die Infrastruktur und ihre aktuellen Angebote. Aber erst mit den qualitativen Rückmeldungen der Fachkräfte in den Einrichtungen und der Kinder, Jugendlichen und Familien selbst können aus den Zahlen Rückschlüsse darüber gezogen werden, ob und wie Präventionsketten wirken. Eines ist sicher: Sie tun es! Es lohnt, den Aufwand im Sinne einer Wirkungsorientierung zu betreiben. So können die beteiligten Jugendämter legitimieren, was sie mit welchem Effekt erarbeitet haben. Zugleich bekommen sie die fachliche Rückmeldung, ob sie auf dem richtigen Weg sind und wo beziehungsweise wie strategisch und konzeptionell weitergearbeitet werden sollte.

Welche Herausforderungen gilt es, bezogen auf die Armutsprävention, in Zukunft zu bewältigen und welche Denkanstöße möchten Sie uns hierbei mit auf den Weg geben?

Christoph Gilles: Die hohen Kinderarmutsquoten bleiben uns leider erhalten. Die Folgen sind weiterhin sehr ungleiche Lebens- und Entwicklungsbedingungen sowie die ungleich verteilte Teilhabe an Bildung, Gesundheit, Kultur, Sport und Freizeit. Das heißt, die Armutsprävention beziehungsweise die Ermöglichung von Teilhabe zur Milderung der Folgen von Armut, müssen wir weiter vorantreiben. Das bedeutet konkret:

  • Bei knappen Haushaltskassen des Landes oder der Kommunen sollten sozialpolitische Prioritäten gesetzt werden.
  • Die Zusammenarbeit der beteiligten Politikfelder und Institutionen aus Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Schule ist ausbaufähig. Meist bleibt die Jugendhilfe allein, dabei können die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen und Familien nicht auf ein Handlungsfeld alleine reduziert werden.
  • Um Armut zu verstehen und Unterstützung bieten zu können, braucht es noch mehr Sensibilität dafür, was es heißt, mit ganz wenig Geld in einer reichen Gesellschaft groß zu werden. Die Debatte um die Kindergrundsicherung zeigt, wie wichtig es ist, allen Beteiligten, Fachkräften, Entscheider*innen in freier Trägerschaft, Kommunalverwaltungen und Politik ein Bild und auch ein Gefühl davon zu vermitteln, wie schwer für Kinder ein Leben in Armut ist – und wie grundlegend es sich vom Leben privilegierter Mittelschichtskinder in finanziell gut ausgestatteten Familien unterscheidet.

Herr Gilles, vielen Dank für das Gespräch.