Zum Inhalt springen

Auswahl der Sprachversion

Pressemeldung

Veranstaltungsbericht: Über Armut schreiben

„Über Armut sprechen - Über Armut schreiben“ lautete der Titel des 10. Dialogforums der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut. Die Veranstalter*innen des Formats richteten diesmal ihren Fokus auf Literatur, die sich mit dem Thema Armut auseinandersetzt. Autorin Rebecca Elbs las aus ihrem Erstlingswerk über einen Kinderalltag vor, in dem Fantasie und Freundschaft über Armut und Diskriminierungserfahrungen hinweg helfen.

Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt

Arm? Selber schuld! Dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Die LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut und die Chancenwerkstatt für Vielfalt und Teilhabe der Integrationsagentur der AWO Mittelrhein haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, für die Lebenswirklichkeit von armutsbetroffenen Menschen zu sensibilisieren und für eine verbesserte Teilhabe einzutreten. Mit dem gemeinsamen Dialogformat „Über Armut sprechen“ haben die Veranstalter*innen den Grundstein für einen fortdauernden Austausch rund um das Thema Kinder- und Jugendarmut gelegt. In der anderthalb-stündigen, in regelmäßigem Rhythmus stattfindenden Veranstaltung teilen Fachkräfte ihre Erfahrungen, Referent*innen beleuchten Aspekte von Armut. Mit diesen und weiteren Impulsen der Armutssensibilisierung geht die geschätzte und inzwischen etablierte Veranstaltung ins zweite Jahr.

Die jüngste Ausgabe von „Über Armut sprechen“ erweiterte das Sensibilisierungsspektrum um einen neuen Aspekt: das Schreiben über Armut. Die Kinderbuchautorin Rebecca Elbs trug aus ihrem 2021 erschienenen Roman „Leo & Lucy. Die Sache mit dem dritten L“ diskussionsanregende Passagen vor. Den anwesenden Fachkräften, die bereits beruflich mit Armut zu tun haben, wurde dabei aus der Kinderperspektive vermittelt, was Armut konkret bedeutet. Aus ihrer langjährigen Arbeitserfahrung im sozialen Bereich weiß Elbs, wovon sie schreibt. Sie gab den aufmerksam lauschenden Veranstaltungsteilnehmer*innen Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt von Kindern, die nicht daran gewöhnt sind, dass ihnen Wünsche von den Augen abgelesen werden. Besonders bewegend war die Schilderung von Leos Herzenswunsch, der für gut situierte Familien leicht zu erfüllen ist, aber für den Hauptprotagonisten zunächst keine Aussicht auf Erfüllung bietet.

Die Fantasie-Welt ist manchmal die bessere

Die Geschichte dreht sich um Leo, der ein Skateboard vom Sperrmüll besitzt und ständig Comic-Bilder im Kopf hat. Er wächst „auf einer Insel mit Namen Köln-Chorweiler“ auf. „Allerdings, ob Chorweiler wirklich eine Insel ist, kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Aber wenn man weit genug rausfährt, fängt vielleicht ja doch irgendwann das Meer an, von dem alle nach den Ferien erzählen“, sagt Leo. Denn anders als für seine Mitschüler*innen gehören Urlaube am Meer nicht zu seinem Ferienprogramm. In Leos Welt gibt es keine Einfamilienhaus-Idylle mit Trampolin im Garten, keine vegetarische Vollkornpizza, kein klassisches Familienmodell mit Vater, Mutter und zwei Kindern. Leo lebt im 15. Stock eines Hochhauses bei seiner alleinerziehenden Mutter und ernährt sich mitunter von Weiße-Mäuse-Toast mit Waldmeister-Brause und extra viel Schokocreme. An anstrengenden Schultagen oder nach einem gemeinen Kommentar seines Mitschülers findet Leo Trost in einer Weltraummission, die er in seiner Fantasie unternimmt.

Kindern eine Stimme geben

„Für mich ist es wichtig, dass eine Geschichte Kindern Freude bringt und Visionen gibt,“ beschreibt Elbs ihre Vorüberlegungen zum Buch. „Ich halte wenig davon, aus einer pädagogischen Intention heraus zu schreiben. Vielmehr möchte ich Kindern eine Stimme geben.“ Die Autorin gibt insbesondere denjenigen eine Stimme, die in der Gesellschaft oft übersehen werden. Die Romanfiguren werden mit all ihren Besonderheiten behutsam den Leser*innen nähergebracht. So gelingt es Elbs, gängige Stereotypen zu umgehen. Erst lange, nachdem die Leser*innen die zweite Protagonistin Lucy kennengelernt haben, erfahren sie, dass diese in einem Rollstuhl sitzt. „Ich möchte, dass man Lucy als Mensch kennenlernt. Sie definiert sich nicht über den Rollstuhl. Das ist mir ganz wichtig“, betont Elbs. Der Roman vermittelt die Botschaft, dass Vielfalt geschätzt und respektiert werden sollte. Er erfüllt damit den Wunsch der Teilnehmenden der LVR-Veranstaltung, die bei einer Online-Umfrage die aus ihrer Sicht wichtigsten Aspekte in Büchern über Armut nannten: Wertschätzung, Respekt, Vielfalt und das Vermeiden von Stereotypen. Nicht umsonst hat die Stiftung Lesen aus „Leo & Lucy“ Impulsmaterial wie das Arbeitsblatt „Anders – was heißt das?“ für Schüler*innen zusammengestellt. Ziel ist ein offenes gesellschaftliches Miteinander über alle Unterschiede hinweg.

Menschen sind unterschiedlich, und das ist auch gut so

Mit leichter Feder greift die Autorin Themen wie körperliche Behinderung und Legasthenie auf. Die große Stärke des Buches zeigt sich darin, dass diese nicht „behandelt“, sondern mit Humor genommen werden. Wenn Leo im Deutschunterricht vorlesen muss, hört er sich Laute wie „Wa-a“ sagen. Die zwei Zeichen danach mutieren beide gleichzeitig zu Glühwürmchen und jagen sich gegenseitig so schnell über den Rand des Deutschbuchs hinaus, dass ich total den Überblick verliere. Der Lehrer wird ungeduldig. „Lass mal gut sein, Leo. Wir haben ja nicht den ganzen Tag Zeit.“ Dann ist ein Mitschüler dran. Schon nach Cornelius’ ersten paar Sätzen denke ich, dass mir gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Er liest so dermaßen schnell, dass ich jetzt schon nicht mehr weiß, wo wir sind. Würde sich Cornelius eine Krawatte umbinden, könnte er locker die Nachrichten im Fernsehen vorlesen.

Auch das Thema Armut geht die Autorin über die Figur Leo pragmatisch an, denn eine andere Wahl hat ihr Protagonist nicht. Die Aussage seines Mitschülers Jannis, dass Leos Zuhause das hässlichste Hochhaus der Liller Straße sei, will er so nicht stehen lassen. Immerhin hat man von uns aus eine hammermäßige Aussicht. Auf jeden Fall eine bessere, als wenn man in einem dieser zwei kleinen Häuser vor uns wohnt. Dann hat man nämlich nur ein Hochhaus vor der Nase und sonst nichts.

„Leo und Lucy“ ist ein besonderes Buch, dass auch Kindern und Jugendlichen, die in Stadtteilen wie Köln-Chorweiler groß werden, die Möglichkeit bietet, sich mit ihren Protagonisten zu identifizieren und zugehörig zu fühlen. Rebecca Elbs beschreibt die Lebenswirklichkeit von Kindern, die nicht in privilegierten Verhältnissen aufwachsen, authentisch und zeichnet zugleich eine Freundschaft zwischen Leo und Lucy, die sich viele Kinder wünschen, egal wo sie groß werden.

Fragen und Anmeldungen zum Veranstaltungsformat "Über Armut sprechen"

Der erste Band von LEO & LUCY wird im Januar 2023 als Taschenbuch bei Carlsen (8 Euro) erscheinen. Darüber hinaus wird es bei Carlsen begleitend zum Buch ein Unterrichtsmodell zum Herunterladen geben.