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Schüler entdecken als Bildungspaten verborgene Talente

Ein Projekt des Präventionsnetzwerkes pro kids in Emmerich

Lerntandem
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Lerntandem: Denise erklärt ihrem Schützling geduldig die Fragestellung

Von Natalie Deissler-Hesse

Der Schulstart ist für Kinder ein einschneidendes Erlebnis. Nicht allen fällt es leicht, sich in den unbekannten Strukturen zurechtzufinden. Um die Eingewöhnung von Schulanfängern zu erleichtern, hat das Präventionsnetzwerk pro kids Emmerich eine Bildungspatenschaft zwischen Grund- und Gesamtschülern ins Leben gerufen. Zu den Lerntandems gehören auch die Achtklässler Dustin, Denise und Manus. Sie erzählen im Interview, wie sie durch die Tätigkeit als Bildungspaten zu ihrem Berufswunsch fanden.

Lina und Dhian sind beide Schulanfänger, doch sie erleben die Einschulung ganz unterschiedlich. Lina trägt stolz ihre große, bunte Schultüte. Ihre Eltern haben sich für einen Schulranzen entschieden, der allen Anforderungen bei Sitz, Tragekomfort und Stabilität erfüllt. Die Sechsjährige ist gespannt, was sie alles lernen wird. Ihre beste Freundin wird auch in ihrer Klasse sein.

Eine andere Erfahrung macht Dhian. Er fürchtet sich vor dem ersten Schultag. Seine Eltern haben ihm deutlich gemacht, dass nun der Ernst des Lebens beginnt und er lernen muss, sich zu konzentrieren. Für den ersten Schultag haben sie nur das Nötigste gekauft. Es fehlt das Geld, um auf Qualität zu achten. Dhian findet die vielen Räume und fremden Gesichter beunruhigend. Der Sechsjährige macht sich außerdem große Sorgen, dass er die Anweisungen der Lehrerin nicht versteht.

Hilfe für Kinder mit Förderbedarf

Kinder wie Dhian brauchen dringend Hilfe beim Einstieg in den Schulbetrieb. Doch wie sollen sich seine Eltern einen persönlichen Lernbegleiter leisten?

Das Netzwerk pro kids Emmerich, in dem engagierte Träger und Akteure in Emmerich seit 2010 für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern zusammenarbeiten, hat diesen Bedarf erkannt und ermöglicht Kindern wie Dhian bessere Bildungschancen. Zu diesem Zweck wurde ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem Bildungspaten Erstklässler während des ersten Schuljahres begleiten: Im Rahmen eines Sozialpraktikums der Städtischen Gesamtschule in Emmerich haben sich zehn Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse entschieden, im Schuljahr 2017/18 Erstklässler der Rheinschule mit besonderem Förderbedarf einmal wöchentlich zu unterstützen. Für ein gutes Gelingen wurden die Lernpatinnen und Lernpaten zuvor geschult und passende Lerntandems zusammengestellt. Umgesetzt wird das Projekt von der Katholischen Waisenhausstiftung, dem Träger der Ganztagsbetreuung der Rheinschule. Das Projekt wurde mit Mitteln der Sozial- und Kulturstiftung des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) gefördert.

Orientierung in der neuen Welt der Schule

Einer der Bildungspaten ist Dustin. Er kann sich noch gut an seinen ersten Schultag erinnern: „Ich war sehr aufgeregt“, erzählt er. Er wäre damals froh gewesen, wenn ihn jemand an die Hand genommen und das Schulgelände gezeigt hätte. „Aber ich hatte damals keine Hilfe.“ Weil Dustin es toll gefunden hätte, selbst einen eigenen, festen Ansprechpartner zu haben, möchte er diese Hilfe gerne seinem Schützling gewähren. Jede Woche nimmt er sich eine Stunde Zeit für eine Erstklässlerin mit Förderbedarf. Er findet es wichtig, sich ganz auf sie und ihren persönlichen Bedarf zu konzentrieren. „So kann ich noch mehr machen als die Lehrer“, ist er sich sicher.

Bildungspaten lernen Verantwortung zu übernehmen

Die Bildungspaten Dustin, Denise und Malus nehmen rasch die Wertschätzung der Erstklässler wahr. Sie möchten das entgegengebrachte Vertrauen ihrer Schützlinge nicht enttäuschen und sehen sich in der Verantwortung, zu den vereinbarten Terminen zu erscheinen.

Schon nach einigen Wochen haben die Bildungspatinnen und -paten didaktische Fähigkeiten erworben. Manus denkt sich Tricks aus, wie er abstrakte Formeln veranschaulichen kann: „Ich erkläre Plus und Minus gerne mit Buntstiften.“ So hat er dazu beigetragen, dass sein Schützling inzwischen ganz flink Kopfrechnen kann und einfache Rechenaufgaben „schon in drei bis vier Sekunden“ löst.

Bildungspatinnen und -paten erlernen Sozialkompetenz

Im Laufe des Schuljahres wird deutlich, dass die Bildungspatenschaft weit über eine schulische Lernbegleitung hinausgeht. Den Gesamtschülerinnen und -schülern gelingt es zunehmend, sich in die Gedanken und Gefühle ihrer Schützlinge hineinzuversetzen. Die Achtklässler sind in der Lage, körpersprachliche Signale zu interpretieren. Gelegentlich passiert es, dass sich die Schulanfänger von den Großen kontrolliert fühlen und Aufgaben selbstständig lösen möchten. Diesen Wunsch müssen die Bildungspatinnen und -paten erkennen und respektieren lernen. Dustin hat inzwischen ein gutes Gespür dafür entwickelt, wann sein Lernpatenkind Hilfe braucht und wann nicht: „Ich nehme Augenkontakt ihr auf,“ beschreibt er sein Vorgehen. „Dann frage ich sie: Wie geht es dir gerade? Verstehst du die Aufgabe?“ Diese Sozialkompetenz hat auch Denise durch die Bildungspatenschaft erworben: „Manchmal möchte sich mein Patenkind allein mit einer Aufgabe beschäftigen. Ich schaue ihn an, und dann merke ich, wenn er alleine arbeiten will.“

Erfolgserlebnisse stärken das Selbstbewusstsein

Nach einem Jahr Lernbegleitung fällt Manus auf, dass sein Schützling große Fortschritte bei der Konzentrationsfähigkeit gemacht hat: „Anfangs war er sehr hektisch und unruhig. Dann wurde er leiser und ruhiger. Die Aufgaben löst er inzwischen schnell. Sozialverhalten und Arbeitsweise sind auch besser geworden.“ Denise hat ähnliches beobachtet. Ihr Lernpatenkind sei anfangs häufig abgelenkt gewesen, erinnert sie sich. „Und jetzt viel weniger.“ Dass der Junge kontinuierlich seine schulischen Leistungen und sein Sozialverhalten verbessert, hat Denises Vertrauen in ihre Fähigkeiten gestärkt: „Da habe ich gemerkt, ich habe ihn gut unterstützt.“ Die Erfolgserlebnisse haben insbesondere bei Denise und Dustin Berufswünsche geweckt. Für Denise steht fest, dass sie Erzieherin wird. Es macht ihr großen Spaß, Kinder zu betreuen und zu fördern. Die Bildungspatenschaft hat sie bestärkt, ihre Talente weiter auszubauen. Die Gesamtschülerin ist überzeugt, dass sich das Projekt als Türöffner erweisen wird. „Ich habe Erfahrungen gesammelt und gemerkt, dass ich gut erklären kann. Mein Patenkind begreift jetzt schnell.“

Resümee: positiv! Projekt fortsetzen? Ja!

Nicht nur Bildungsexperten wissen, dass Spaß am Lernen die entscheidende Voraussetzung für den Schulerfolg ist. Dustin, Denise und Malus machen es vor: Was man gerne macht, macht man gut. Andere Lernpaten haben festgestellt, dass sie durch die Bildungspatenschaft „weniger schüchtern“ sind oder gelernt haben, „geduldiger zu werden“.

Projektbeteiligte und Kinder sind nach dem ersten Jahr Bildungspatenschaft insgesamt sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Schulanfängern wie Dhian gelingt es zunehmend, sich im System Schule zurechtzufinden. Von Seiten der Gesamtschülerinnen und -schüler bestehen keine Änderungswünsche, sollte das Projekt fortgeführt werden. „Mein Patenkind und ich wünschen uns, dass ich ihn so lange wie möglich begleiten kann“, sagt eine Lernpatin. Dennoch gibt es ein paar Stellschrauben, an denen gedreht werden muss. Die Rektorin der Rheinschule sieht noch Potenziale bei der Organisation und Schulung der Lernpatinnen und -paten. Drei Lerntandems, die nicht den gewünschten Erfolg brachten, wurden neu zusammengestellt. Eine langfristige Kooperationsvereinbarung der beiden Schulen ist aus Sicht der Beteiligten wünschenswert. Der erste Schritt ist mit neuen Lerntandems bei den diesjährigen Schulanfängern bereits gemacht. Auch wer von den Gesamtschülerinnen und -schülern keine versteckten Talente bei sich entdeckt hat, kann benennen, was ihm die Bildungspatenschaft gebracht hat: „Einen neuen Freund.“

Die Bildungspatenschaft von pro kids Emmerich ist ein wertvoller Baustein in der Präventionskette und unterstützt einen weichen Übergang an der Schnittstelle Kita – Grundschule.

pro kids wurde im Jahr 2010 gegründet. Es handelt sich um ein Netzwerk zur Förderung des gelingenden Aufwachsens von Kindern und der Prävention von Armutsfolgen in Emmerich am Rhein. Mitglieder sind Kooperationspartner aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, Kirchen, Schulen und soziale Institutionen. Emmerich ist Partnerkommune der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut.