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Medikamentöse Therapie

Bis in die 50er Jahre standen „Schock-Methoden" im Zentrum der Behandlung. Heute gehört zum Selbstverständnis der Psychiatrie: Medikamentöse Behandlung gegen den Willen eines Kranken ist nur zur Abwendung unmittelbarer Gefahr zulässig.

Wohl oder Übel? - Medikamente in der Psychiatrie

Die Behandlung psychischer Störungen mit Medikamenten wurde seit ihren Anfängen immer wieder kritisiert. Bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts standen „Schock-Methoden", zum Beispiel durch elektrische Reizung, Medikamente oder künstlich erzeugtes Fieber (mittels Malariainfektion) im Zentrum der Behandlung. Dahinter stand die Idee, dass schwere körperliche Erschütterungen eine seelische Störung günstig beeinflussen könnten. Dagegen war die Wirkung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln bei psychotisch gestörten Menschen enttäuschend. Selbst wenn Patienten mit Narkosemitteln in einen (nicht ungefährlichen) Tiefschlaf versetzt worden waren, erwachten sie meistens genauso erregt, ängstlich oder deprimiert wie zuvor.

Entwicklung von Neuroleptika

1952 entdeckte man zufällig ein Medikament (Chlorpromazin), das die Eigenschaft besaß, Unruhe und Erregung zu dämpfen, ohne die betreffende Person in Schlaf zu versetzen. Diese Entdeckung war der Auslöser intensiver Forschungsaktivitäten. Sie ermöglichte auch ein besseres Verständnis der Funktion des Gehirns, denn zum ersten Mal wurden Substanzen gefunden, die gezielt bestimmte seelische Funktionen dämpfen konnten, ohne das Bewusstsein, das Denkvermögen, das Gedächtnis etc. zu beeinträchtigen. Diese - chemisch unterschiedlichen - Substanzen wirken therapeutisch auf psychische Symptome (Unruhe, Angst, Wahnsymptome), aber auch auf vegetative (Kreislauf, Schwitzen, Verdauung, Speichelproduktion) und motorische (Bewegungsabläufe) Funktionen, so dass man ihnen den Namen "Neuroleptika" gab. Erst etwa 10 Jahre nach der Entdeckung der Neuroleptika konnte ihr Wirkmechanismus durch Nachweis ihrer Wirkung auf das Dopamin, einen Überträgerstoff des Nervensystems, erklärt werden. Weltweit interessieren sich wissenschaftliche Einrichtungen und vor allem Arzneimittelproduzenten für die Entwicklung neuer Medikamente für die Psychiatrie.

Innere Leere und Niedergeschlagenheit

Berichte von Zeitgenossen lassen ahnen, wie groß vor 50 Jahren das Erstaunen, ja der Enthusiasmus über die unerwartete und unerklärliche Wirkung der neuen Medikamente war. Mancher glaubte gar an ein Wunder. Aber es gab auch Ernüchterung, denn viele Patienten zeigten nach Absetzen der Neuroleptika erneut das vorherige gespannte und erregte Verhalten. Und die Patienten erlebten auch unangenehme Nebenwirkungen, vor allem eine eingeschränkte Beweglichkeit, die von manchen Psychiatern als entscheidend für die psychische Wirkung verstanden wurde. Viele Patienten klagten auch über innere Leere und Niedergeschlagenheit, wenn die psychotische Unruhe nachließ.

Depressionsforschung

Die Beobachtung von depressiven Verstimmungszuständen unter der Behandlung mit Neuroleptika führte zu neuen Bemühungen im Bereich der Depressionsforschung. Noch in den 50er Jahren kamen erste Präparate zur Anwendung, die ähnlich wie die Neuroleptika in den Stoffwechsel der Überträgerstoffe des Gehirns eingriffen und günstig auf depressive Hauptsymptome, wie Antriebslosigkeit, depressive Wahnvorstellungen, Angst und innere Unruhe wirkten. Die Einführung von Medikamenten in die Behandlung psychisch kranker Menschen hat die Psychiatrie in allen Bereichen verändert. Die Ärzte, die bis dahin in den psychiatrischen Kliniken eine vorwiegend verwaltende und die Störungen der Kranken beschreibende Funktion gehabt hatten, bekamen mit den Medikamenten ein Mittel, um sich den Patientinnen und Patienten anzunähern und mit ihnen auseinander zu setzen. Damit schufen die Medikamente in der Betreuung psychotischer Patienten die Voraussetzung für weitergehende psychosoziale Hilfen bis hin zur psychotherapeutischen Behandlung. Andererseits nahmen einige die Psychopharmaka zum Beweis dafür, dass psychische Störungen in erster Linie als biologisches Problem, als Stoffwechselerkrankung des Gehirns zu verstehen seien. Das diente zwar dem Ziel der Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken, aber es bedeutete doch auch eine unzulässige Verengung des Krankheitsverständnisses auf rein körperliche Aspekte.

Psychopharmaka

Schließlich hatte die rasche Verfügbarkeit von ruhigstellenden Medikamenten in den 60er Jahren auch den Effekt, dass man versuchte, andere Mangelerscheinungen - zu wenig betreuendes und therapeutisches Personal in den Kliniken und unzulängliche Strukturen - durch übermäßigen Einsatz der Medikamente auszugleichen. In derselben Zeit wuchs die Nachfrage nach beruhigenden Medikamenten in vielen gesellschaftlichen Bereichen außerhalb der psychiatrischen Versorgung. Damit verbunden war die Entwicklung von Stoffen mit geringeren motorischen und vegetativen Wirkungen als die Neuroleptika, die allerdings auch nicht über eine ausreichende Wirkung gegen psychotische Unruhe verfügten. Solche „minor tranquilizer" eroberten rasch einen riesigen Markt und hatten zur Folge, dass die Psychopharmaka bis heute die nach Schmerzmitteln am zweithäufigsten verordnete Medikamentengruppe in den Industrieländern sind. Ihre Anwendung erfolgt ganz überwiegend außerhalb der Psychiatrie.

Medikamentöse Behandlung gemeinsam mit Patienten

Heute - nach über 50 Jahren Erfahrung mit medikamentöser Behandlung in der Psychiatrie - sind die kontroversen Debatten eher von einem gemeinsamen Bemühen der verschiedenen Gruppen um eine Verbesserung der Behandlungsqualität abgelöst worden. Längst ist es selbstverständlich, dass Vertreter der Angehörigen psychisch Kranker und der Psychiatrieerfahrenen bei wissenschaftlichen Kongressen zu Wort kommen und über ihre Erfahrungen mit medikamentöser Behandlung berichten. Das Repertoire von Medikamenten wurde erweitert, bewährte Präparate haben weiterhin einen hohen Stellenwert, neue besser verträgliche Medikamente mit veränderten Wirkmöglichkeiten sind hinzugekommen. Bei ihrer Anwendung wird darauf geachtet, die aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten zu gewinnen. Absprachen über medikamentöse Behandlung spielen in den Behandlungsvereinbarungen, die in vielen psychiatrischen Einrichtungen inzwischen abgeschlossen werden, eine wichtige Rolle. Und auch das gehört zum Selbstverständnis der Psychiatrie: Medikamentöse Behandlung gegen den Willen eines Kranken ist nur zur Abwendung unmittelbarer Gefahr zulässig. Das viel beschworene Schreckgespenst der „Zwangsspritze" gibt es in Wirklichkeit nicht.

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