Hinzuziehung einer Vertrauensperson bei Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII
Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 8. Mai 2023
Az. 2 B 329/22
Der Antragsteller meldete sich in einer Ersteinrichtung in Bremen als unbegleiteter Minderjähriger aus Gambia.
Durch die Antragsgegnerin, das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt, erfolgte eine qualifizierte Inaugenscheinnahme zur Alterseinschätzung gemäß § 42f Absatz 1 Satz 1 SGB VIII. Von der Möglichkeit, eine Vertrauensperson hinzuzuziehen, wurde der Antragssteller erst unmittelbar vor Beginn der Inaugenscheinnahme in Kenntnis gesetzt. Er erhielt den Hinweis, dass die Inaugenscheinnahme ohne Nachteile für ihn verschoben werden könne, wenn er sich zunächst um eine Vertrauensperson kümmern wolle. Der Antragsteller gab an, keine Vertrauensperson hinzuziehen zu wollen.
Da der Antragsteller als volljährig eingeschätzt wurde, beendete die Antragsgegnerin die vorläufige Inobhutnahme.
Gegen diese Entscheidung legte der Antragsteller Widerspruch ein und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beim Verwaltungsgericht Bremen. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zurückgewiesen, da die von der Antragsgegnerin vorgenommene Alterseinschätzung keine Zweifel aufwerfe.
Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts legte der Antragsteller Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Bremen ein. Der Antragsteller beanstandete, dass es aufgrund der erst unmittelbar vor Beginn der qualifizierten Inaugenscheinnahme erfolgten Unterrichtung bezüglich der Berechtigung, eine Vertrauensperson hinzuzuziehen, an einem einwandfreien Verwaltungsverfahren nach § 42f SGB VIII fehle.
Die Beschwerde ist unbegründet. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts liege bezüglich der nicht rechtzeitigen Information über die Möglichkeit der Hinzuziehung einer Vertrauensperson zwar ein Verfahrensverstoß vor, da dadurch die Wahrnehmung dieses Rechts tatsächlich effektiv nicht möglich war. Daran ändere auch der Hinweis nichts, die Inaugenscheinnahme könne ohne Nachteile für den Antragssteller verschoben werden. Das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung aber nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise der Antragsgegnerin gestützt. Das Versäumnis sei im Ergebnis unbeachtlich, da der Antragssteller die bislang unzureichenden und nicht schlüssigen Angaben in seiner Biografie nicht nachträglich ergänzt beziehungsweise Widersprüche nicht ausgeräumt habe.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss vom 08.05.2023
Amtspflichtverletzung bei unangemessener Fremdunterbringung in stationärer Jugendhilfeeinrichtung
Oberlandesgericht Frankfurt, Urteil vom 27. Juli 2023
Az. 1 U 6/21
Der minderjährige Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Unterbringung in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung in Anspruch.
Die getrenntlebenden Eltern des Minderjährigen stritten um das Sorgerecht. Der Kläger lebte während des Sorgerechtsstreits zunächst bei seiner Mutter und hatte regelmäßigen Umgang mit seinem Vater. Im November 2016 teilte der Kläger seinem Vater mit, dass seine Mutter ihn geschlagen habe. Nach Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Attests nahmen die Mitarbeiter der Beklagten den Kläger in Obhut und brachten ihn in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung unter. Im Dezember 2016 übertrug das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht an die Beklagte, die einer weiteren Inobhutnahme zustimmte. Daraufhin widerriefen die Eltern ihre zunächst erteilte Zustimmung zur Inobhutnahme. Bereits Anfang Januar 2017 zog das Jugendamt die Unterbringung bei einem der Elternteile in Erwägung, dennoch kehrte der Kläger erst im Laufe des Sorgerechtsverfahrens im April 2017 zu seiner Mutter zurück. Nach Einholung eines weiteren Gutachtens hob das Oberlandesgericht den ursprünglichen Beschluss des Familiengerichts auf und übertrug im Juli 2018 das alleinige Sorgerecht an den Vater. Der Kläger lebt seither bei seinem Vater.
Der Kläger begehrte im gerichtlichen Verfahren die Entschädigung wegen der erlittenen Trennung von seinen Eltern. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht Frankfurt gab dem Klagebegehren aufgrund der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers teilweise statt.
Entgegen der Ansicht des Klägers stellte die Inobhutnahme anfangs keine schuldhafte Amtspflichtverletzung dar. Die Inobhutnahme und die weitere Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe könnten hingegen, so das Oberlandesgericht Frankfurt, abgesehen von einer kurzen Übergangszeit, nicht damit gerechtfertigt werden, dass der Kläger von seiner Mutter geschlagen wurde. Der Kläger hätte bis zur endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht bei seinem Vater untergebracht werden können. Eine über mehrere Monate andauernde Trennung des Klägers von seiner Familie sei nicht gerechtfertigt. Es komme darauf an, ob die Entscheidung, die Unterbringung in der Einrichtung aufrechtzuerhalten, sachgemäß war und einer am Kindeswohl orientierten Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts entsprach. Kindern, die in einen hochkonflikthaften Streit zwischen Elternteilen hineingezogen werden, sei nicht damit geholfen, dass sie mit der Folge einer nachhaltigen Beeinträchtigung ihrer Beziehung zu beiden Elternteilen außerhalb der Familie untergebracht würden. Das Jugendamt der Beklagten habe bei der ihm übertragenen Entscheidung über den Aufenthalt des Klägers, die ihm gegenüber obliegende Amtspflicht und die ihm obliegende Pflicht zur Personensorge dadurch schuldhaft verletzt, dass es das Aufenthaltsbestimmungsrecht über die anfängliche Inobhutnahme hinaus weiterhin zugunsten einer Fremdunterbringung des Klägers ausgeübt habe.
Bürgerservice Hessenrecht - 1 U 6/21 | OLG Frankfurt 1 . Zivilsenat | Urteil | Haftung des Jugendamts als Amtspfleger
Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Jugendhilfemaßnahme als Voraussetzung für Heranziehung nach §§ 91 ff. SGB VIII
Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 8. September 2023
Az. 3 K 100/22
Der Kläger wandte sich zunächst erfolgreich im Widerspruchsverfahren gegen die Kostenheranziehung für eine Jugendhilfemaßnahme seines Sohnes mit der Begründung, dass seine Kreditverbindlichkeiten nicht berücksichtigt wurden. Ihren im September 2017 ergangenen Bescheid hob die Beklagte im Januar 2018 auf und setzte den Kostenheranziehungsbeitrag auf Null.
Nach Abbruch der begonnenen Jugendhilfemaßnahme nahm die Beklagte den Sohn des Klägers im November 2017 erneut in Obhut und brachte ihn in einer Jugendhilfeeinrichtung unter. Hierüber unterrichtete sie den Kläger im Dezember 2017. Nach Einreichung und Überprüfung entsprechender Einkommensnachweise erließ die Beklagte im September 2019 erneut einen Kostenheranziehungsbescheid gegen den Kläger, da die abschließende Überprüfung ergeben habe, dass er ab Januar 2018 rückwirkend einen Kostenbeitrag zu zahlen habe. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück.
Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob die zugrundeliegende Jugendhilfemaßnahme rechtmäßig erfolgte.
Im vorliegenden Verwaltungsgerichtsverfahren lehnte die Beklagte die Vorlage der Jugendamtsakte aus Datenschutzgründen ab. Auch die Vorlage einer geschwärzten Akte lehnte sie mit der Begründung ab, der Aufwand der Unkenntlichmachung datenschutzrelevanter Angaben stünde in keinem Verhältnis zum erwarteten Nutzen. Schließlich willigte sie unter der Bedingung ein, dass nur das Gericht die Jugendamtsakte einsehen könne. Dies lehnte das Verwaltungsgericht mit der Begründung ab, dass die dem Gericht vorgelegten Behördenakten grundsätzlich verfahrensöffentlich seien. Der erneuten Aufforderung des Gerichts zur Vorlage der Jugendamtsakte kam die Beklagte nicht nach.
Das Verwaltungsgericht Bremen hat der Klage stattgegeben. Die Heranziehung zu einem Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII setzt die Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Jugendhilfemaßnahme voraus. Ist der zu einem Kostenbeitrag Herangezogene am vorherigen Verwaltungsverfahren zu der Jugendhilfemaßnahme nicht beteiligt und konnte er keine Einwendungen vorbringen, ist die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der bewilligten Jugendhilfemaßnahme im gerichtlichen Verfahren erforderlich. Verweigert die Beklagte die Übermittlung von Informationen an das Verwaltungsgericht aus Gründen des Sozialdatenschutzes gemäß § 65 SGB VIII und kann deswegen eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Jugendhilfemaßnahme nicht durchgeführt werden, ist eine Heranziehung zu einem Kostenbeitrag ausgeschlossen.
Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 8. September 2023
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