Kostenerstattung bei fortdauernder Vollzeitpflege, §§ 89a, 89e SGB VIII
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. April 2023
Az. 12 A 1586/21
Der Kläger gewährte aufgrund seiner gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII bestehenden Zuständigkeit Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII.
Für die zuvor bestehende Zuständigkeit war nach § 86 Absatz 3 in Verbindung mit Absatz 2 Satz 2 SGB VIII der gewöhnliche Aufenthalt der Mutter maßgeblich, den sie in einer Justizvollzugsanstalt im Bereich des zuvor zuständigen Jugendamtes begründet hatte. Da sie unmittelbar vor Aufnahme in der Einrichtung keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, erkannte der beklagte überörtliche Träger gegenüber dem zuvor zuständigen Jugendamt seine Kostenerstattungspflicht nach § 89e Abs. 2 SGB VIII an.
Gegenüber dem anschließend nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständigen Kläger lehnte der Beklagte hingegen seine Kostenerstattungspflicht ab. Die Vorschrift des § 89e SGB VIII sei nur bei Leistungen anwendbar, bei denen sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII richte und knüpfe nicht an den nach § 86 Abs. 6 SGB VIII maßgeblichen gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson an. Auch könne ein Anspruch nach § 89e SGB VIII nicht Teil einer „Erstattungskette“ nach § 89a Abs. 2 SGB VIII sein.
Gegen die erfolglos vor dem Verwaltungsgericht Münster angegriffene Entscheidung legte der Kläger Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen ein.
Die Berufung ist begründet. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts wurde der Anspruch auf Kostenerstattung nach § 89a Abs. 2 in Verbindung mit § 89e Abs. 2 SGB VIII zu Unrecht abgelehnt.
Die Voraussetzungen des im § 89a Abs. 2 SGB VIII geregelten Durchgriffs seien erfüllt. Da die Mutter vor Aufnahme in der Justizvollzugsanstalt lediglich einen tatsächlichen und keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, habe der nach § 89a Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig werdende zuvor zuständige Träger gegen den Beklagten zumindest einen fiktiven Kostenerstattungsanspruch gemäß § 89e Absatz 2 in Verbindung mit Absatz 1 SGB VIII, sodass der Beklagte nach § 89a Abs. 2 SGB VIII auch dem Kläger, als dem nunmehr nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewordenen örtlichen Träger, kostenerstattungspflichtig bleibe.
Der Wortlaut des § 89e Abs. 1 SGB VIII, der für das Bestehen eines Anspruchs nicht an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson anknüpfe, stehe dem nicht entgegen, da es lediglich um die fiktive Bestimmung des ohne die Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII vormals und je nach Fallgestaltung auch weiterhin zuständigen und damit grundsätzlich erstattungspflichtigen örtlichen Trägers geht.
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen
Unterhaltsvorschuss - Mitwirkungspflicht der Kindesmutter in One-Night-Stand-Fällen
Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Mai 2023
Az. 5 A 350/22
Die Klägerin stellte im Jahr 2018 nach Geburt ihres Kindes einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Mutter und Vater des Kindes kannten sich nicht, das Kind ist während eines sogenannten One-Night-Stand gezeugt worden. Zum Zeitpunkt der Zeugung war eine Schwangerschaft nicht beabsichtigt. Nachdem die Klägerin die Schwangerschaft circa vier Monate später feststellte, versuchte sie vergeblich, den Vater des Kindes ausfindig zu machen und suchte hierzu mehrmals den Ort ihrer zufälligen Begegnung auf. Name und Anschrift des Vaters waren ihr unbekannt. Im Antragsformular auf Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz gab sie auf die Frage zu „Versuchen, den Aufenthaltsort des anderen Elternteils zu ermitteln“, die Antwort „Nein, Gründe: keine persönlichen Daten vorhanden“ an.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz lehnte die Beklagte ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin sei ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Mit ihrer hiergegen eingereichten Klage blieb die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht zunächst erfolglos.
Das Oberverwaltungsgericht hob das Urteil auf und gab der Klage nun statt. In sogenannten One-Night-Stand-Fällen komme die Mutter ihrer Mitwirkungspflicht gemäß § 1 Absatz 3 UVG unter folgenden Voraussetzungen nach: Die Mutter des Kindes genüge ihrer Mitwirkungspflicht, wenn sie glaubhaft mache, die Identität des Vaters nicht zu kennen. Ist der Mutter eine detailliertere Schilderung nicht möglich, dürfe nicht auf die Unglaubhaftigkeit ihrer Angaben und die Verletzung der Mitwirkungspflicht geschlossen werden. Die Mitwirkungspflicht der Kindsmutter umfasse nicht, dass aufgrund ihrer Angaben der Kindsvater tatsächlich ermittelt werden könne. Ist das Vorbringen der Kindsmutter, die Identität des Kindsvaters nicht zu kennen, glaubhaft, setze die Mitwirkungspflicht weiterhin voraus, dass die Kindsmutter alles ihr Mögliche und Zumutbare getan habe, um den Kindsvater zu ermitteln. Offensichtlich aussichtslose Ermittlungen müsse die Kindsmutter jedoch nicht anstellen.
Auch käme es nicht auf den ansonsten im Verwaltungsrecht üblichen Zeitpunkt der Antragsstellung an. Werde der Antrag auf Unterhaltsvorschuss erst einige Jahre nach der Geburt des Kindes gestellt, sei nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, sondern darauf, was die Mutter spätestens nach der Feststellung der Schwangerschaft zur Feststellung des Kindsvaters unternommen habe. Die Norm des § 1 Absatz 3 UVG sei deshalb so auszulegen, dass es für die Mitwirkung bei der Feststellung der Vaterschaft grundsätzlich auf den Zeitpunkt unmittelbar nach dem Geschlechtsverkehr, sofern die Kindsmutter von einer Empfängnis ausgehen musste, ansonsten spätestens auf den Zeitpunkt der Feststellung der Schwangerschaft ankomme.
Gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts wurde die Revision nicht zugelassen.
Nachweis eines Kita-oder Kindertagespflegeplatzes trotz fehlender Kapazitäten
Verwaltungsgericht Münster, Beschluss vom 7. Juni 2023
Az. 6 L 409/23
Das Verwaltungsgericht Münster hat mit Beschluss der Stadt Münster (Antragsgegnerin) im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, einem unter drei jährigen Kind ab dem 1. August 2023 einen Betreuungsplatz mit dem Umfang von 45 Stunden wöchentlich zur Verfügung zu stellen, der in nicht mehr als 30 Minuten von der Wohnung des Kindes erreichbar ist.
Die Eltern des am Stadtrand Münsters wohnenden Kindes hatten im Mai 2022 den Betreuungsbedarf zum 1. August 2023 über den sogenannten Kita-Navigator der Antragsgegnerin angemeldet. Das Kind war jedoch weder bei der im Februar 2023 stattgefundenen Platzvergabe, noch im Rahmen des wegen technischer Probleme im März 2023 wiederholten Vergabeverfahrens berücksichtigt worden. Dem daraufhin Ende April gestellten sogenannten Eilantrag hat das Gericht nunmehr im Wesentlichen stattgegeben.
Das Gericht führt aus, das Kind habe gegenüber der Antragsgegnerin einen einklagbaren Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII auf Förderung in einer öffentlich geförderten Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege. Dem stehe nicht entgegen, dass nach den Angaben der Antragsgegnerin eine Vielzahl der Kindertageseinrichtungen aufgrund der angespannten Personalsituation momentan keine zusätzlichen Plätze anbieten könnten. Der Anspruch auf frühkindliche Förderung sei nicht auf den vorhandenen Vorrat an Plätzen begrenzt, sondern letztlich auch auf die Erweiterung der vorhandenen Kapazitäten gerichtet, bis ein Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot bestehe (§ 79 Abs. 2 S. 1 SGB VIII). Es handele sich um eine unbedingte Bereitstellungs- beziehungsweise Gewährleistungspflicht, der der Jugendhilfeträger nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen könnte. Der vom Gesetzgeber ausdrücklich vorbehaltlos gewährleistete Rechtsanspruch würde leerlaufen, wenn sich die Träger der Jugendhilfe auf eine fehlende Erfüllbarkeit wegen Kapazitätsauslastung berufen könnten.
Das Verwaltungsgericht Münster verneint einen Anordnungsanspruch insoweit, als der Antrag auf den Nachweis eines Betreuungsplatzes allein in einer Kindertageseinrichtung beschränkt sei. Hier genüge auch der Nachweis eines Platzes in der Kindertagespflege, da beide Betreuungsformen in einem Gleichrangigkeitsverhältnis stünden.
Meldepflicht nach § 47 Abs. 3 SGB VIII
Verwaltungsgericht Köln, Beschluss vom 30. Juni 2023,
Az. 25 L 1231/23
Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes hatte die Antragstellerin beantragt, dem überörtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Antragsgegner) zu untersagen, die örtlichen Jugendämter anzuweisen, sie dahingehend zu beraten, ihnen zu empfehlen oder sonst darauf hinzuwirken, dass die in ihrer Kostenträgerschaft in der Einrichtung der Antragstellerin lebenden Kinder aus der Einrichtung herausgenommen und/oder Betreuungsmaßnahmen dort beendet werden.
Den Eilantrag hat das Gericht als unzulässig und unbegründet zurückgewiesen.
Das Gericht führt zur Zulässigkeit aus, die Antragstellerin habe nicht dargelegt, zur Vermeidung dieses Rechtsstreits den Antragsgegner mit dem konkreten hier in Rede stehenden Begehren vor Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes überhaupt konfrontiert zu haben. Die Behauptung, dass der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe Jugendämter angewiesen habe, Kinder aus der Einrichtung herauszunehmen basiere lediglich auf Angaben Dritter und auf vagen und dürftigen Tatsachengrundlagen. Zudem habe es die Antragstellerin versäumt, eine entsprechende eidesstattliche Versicherung einzureichen.
Unabhängig davon mangele es zudem an einem Anordnungsanspruch. Die Voraussetzungen des einzig in Betracht kommenden Anspruchs auf Unterlassung nach § 1004 BGB seien nicht erfüllt. Eine Rechtsbeeinträchtigung in diesem Sinne sei nicht glaubhaft gemacht worden. Der Antragsgegner habe lediglich seiner Verpflichtung nach § 47 Abs. 3 SGB VIII entsprochen, indem er die einzelnen Jugendämter über die mitgeteilten die Antragstellerin betreffenden Hinweise in Kenntnis gesetzt hat. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner über die in § 47 Abs. 3 SGB VIII genannte Verpflichtung hinaus verbindliche Weisungen an die Jugendämter erteilt habe. Der Antragsgegner sei den Jugendämtern gegenüber nicht weisungsbefugt.
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